Rainer Semet

Sonderbericht aus Berlin - NATO Gipfel in Vilnius

Heute beginnt der NATO-Gipfel in Vilnius. Seit Wochen schon wird dieser vorbereitet, die Mitgliedsländer stellen sich auf, beziehen Positionen und versuchen, den Erfolg ihrer Vorhaben so gut wie möglich schon vorher einzufädeln. Der diesjährige NATO-Gipfel ist der zweite seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Die Situation hat sich also im Vergleich zu vorherigen Gipfeln völlig geändert. Noch vor wenigen Jahren hat der französische Präsident Emmanuel Macron der NATO den Hirntod attestiert – mittlerweile ist die NATO lebendiger denn je und nimmt eine zentrale Rolle im politischen Geschehen ein. Dabei tun sich auch innerhalb des Bündnisses neue Gräben auf, die sicherlich einen Schwerpunkt auf dem Gipfel einnehmen werden. Konkret geht es dabei um die Beitrittswünsche der Ukraine und Schwedens, die immer wieder aufkommende Blockadehaltung der Türkei und Ungarns, aber sicherlich auch die neue Rolle der NATO-Ostflanke seit dem völkerrechtswidrigen Überfall im letzten Jahr. Sinnbildlich dafür ist auch der Austragungsort des Gipfels, die litauische Hauptstadt Vilnius.

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Der NATO-Beitritt Schwedens

Als am 18. Mai Finnland und Schweden gemeinsam ihren Antrag zum NATO-Beitritt stellten, bedeutete das einen Richtungswechsel für die beiden traditionell neutralen Länder. Doch der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat für beide Nationen die Sicherheitslage dramatisch verändert. Vor allem Finnland ist von dem historischen Trauma des Winterkrieges tief geprägt.

Inzwischen wurde Finnland in die NATO aufgenommen, bei Schweden scheiterte der Beitritt bis jetzt nicht nur an dem Veto der Türkei, sondern auch dem Ungarns.

Gestern Abend erfolgte zumindest aus der Türkei der Sinneswandel. Zurückgegangen ist dieser wohl vor allem auf verschiedene Zusicherungen. Schweden garantiert nach bereits eingeführten strengeren Antiterror-Gesetzen allgemein einen stärkeren Kampf gegen Terrorismus sowie die Unterstützung der Türkei bei ihrem EU-Beitrittswunsch. Auch Charles Michel, der Präsident des Europäischen Rates, hat Erdogan wohl eine Fortführung der Verhandlungen zugesagt, was zu einer neuen Bedingung für Erdogan gehörte. Gleichzeitig haben wohl die USA beschlossen, der Türkei die erhofften 40 F16-Kampfjets zu liefern. Bisher haben die USA die Lieferung an das Aufgeben der türkischen Schweden-Blockade geknüpft, ein Teufelskreis also.

Ungarn hat bereits wiederholt erklärt, bei einer Zustimmung der Türkei den Beitrittsprozess nicht verhindern zu wollen, weshalb eine Zustimmung von der Seite als gewiss gelten kann.

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Wie geht es weiter mit der Ukraine?

2008 haben die NATO-Mitglieder in Bukarest der Ukraine zugesichert, auf absehbare Zeit der NATO beitreten zu können. Dass der Beitritt der Ukraine damals nicht sofort zur Option gemacht wurde, lag vor allem an den Sorgen Frankreichs und Deutschlands, den Russen damit auf die Füße zu treten. Seit 2014 kann man sich aber fragen, ob nicht das Gegenteil mehr bewirkt hätte. Womöglich hätte Putin die Ukraine nie angegriffen, hätte er sich dann in einem Krieg mit der NATO befunden.

Eine ähnliche Problematik hat sich auch schon mit dem Fall des eisernen Vorhangs aufgetan. Nachdem die Ukraine ihre Nuklearwaffen an Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion abgetreten hat, erklärte neben den USA und Frankreich auch Russland, die territoriale Unversehrtheit der Ukraine zu wahren, solange die Ukraine auf den Besitz von Atomwaffen verzichtet. Von dem Vertrag außerdem eingeschlossen sind Kasachstan und Belarus.

Diese beiden Entscheidungen sind aus unserer heutigen Perspektive eindeutig Fehler gewesen. Die Hoffnung, die mit dem Fall des Eisernen Vorhangs verbunden war, führte zu einem Vertrauen in Russland, welches mit der Annexion der Krim 2014, spätestens aber mit dem Überfall auf die restliche Ukraine im letzten Jahr, endgültig zerstört wurde. Putins Drohungen, Russland durch die NATO-Osterweiterung nicht in Bedrängnis zu bringen, wurden Folge geleistet. Sie haben jedoch unsere Sicherheit nicht erhöht, im Gegenteil: Putin scheint seine imperialistischen Ziele verfolgen zu können, weil der Westen ihm mit großen Schritten entgegenkam.

Die Situation jetzt ist deutlich schwieriger. Wäre noch 2008 in Bukarest ein NATO-Beitritt der Ukraine problemlos möglich gewesen, steckt die Ukraine jetzt in einem Krieg, der es fast unmöglich macht, der NATO beizutreten. Aus den eigenen Fehlern zu lernen, ist kaum noch möglich.

Wie geht es jetzt also weiter? Das übergeordnete Ziel muss sein, Russland und Putin deutlich zu machen, dass es sich nicht lohnt, Nachbarländer zu überfallen. Gleichzeitig muss der Ukraine ein dauerhafter Frieden und damit verbundener Schutz ermöglicht werden. Die Ukraine fordert einen möglichst schnellen NATO-Beitritt. Für die NATO ergeben sich nun verschiedene Alternativen:

  1. Die Ukraine könnte in einem beschleunigten Verfahren in die NATO aufgenommen werden, ähnlich wie Finnland im letzten Jahr. Dies würde aber einen automatischen Kriegseintritt aller NATO-Länder bedeuten und lässt sich damit ausschließen. Die unmittelbare Beteiligung der NATO an dem Ukraine-Krieg würde eine unvergleichliche Eskalation des Krieges bedeuten und käme einem dritten Weltkrieg gleich, den es unter allen Umständen zu verhindern gilt.
  2. Ein Beitritt lediglich des unbesetzten Teiles der Ukraine, ähnlich wie die Bundesrepublik 1955 der NATO beigetreten ist. Dies würde dem unbesetzten Großteil der Ukraine den Schutz der NATO sichern – und könnte Russland davon abhalten, weiter in die Ukraine vorzudringen, beispielsweise durch einen erneuten Angriff auf Kiew. Bei einer sich ständig ändernden Frontlinie wäre jedoch das Risiko einer Eskalation des Krieges trotzdem erheblich. Jede russische Rakete, die es hinter die Front schafft, würde einen Kriegseintritt der NATO zur Folge haben.
  3. Populär scheint in den letzten Tagen vor allem die Zusicherung eines Beitritts bei Kriegsende zu sein. Auf den ersten Blick scheinen dadurch auch jegliche Probleme gelöst zu werden, die durch einen sofortigen Beitritt der Ukraine entstehen würden. Indirekt würde dies jedoch Putin den Anreiz geben, den Krieg auf unbestimmte Zeit hinauszuzögern. Die Knüpfung eines Beitritts an das Ende des Krieges gibt dem Aggressor ein Mitspracherecht. Schon seit der Annexion der Krim 2014 führt Putin durch schwelende Kämpfe im Osten der Ukraine die NATO an der Nase herum.
  4. Womöglich läuft dieser Gipfel also am Ende bloß auf eine Bekräftigung der seit 2008 mantraartig wiederholten Bukarest-Formel hinaus. Also: Beitritt ja, nur noch nicht jetzt.

Zentral bei der Perspektive für die Ukraine ist, dass es nicht nur bei einem Symbol bleibt. Lediglich die Bukarest-Formel zu bekräftigen, ist sicherlich der leichteste Weg, ist aber auch etwas zynisch, wenn man bedenkt, dass die Bukarest-Formel in ihrem Ursprung Russland womöglich erst in die Lage versetzt hat, zu glauben, ein Angriff auf die Ukraine sei möglich und lohnenswert.

Bei dem Ziel, die Ukraine in die NATO zu integrieren, sind vor allem Deutschland und die USA weiterhin skeptisch. US-Präsident Biden hat am Wochenende in Aussicht gestellt, der Ukraine bei Ende des Krieges einen Schutz zu bieten, den die USA derzeit auch Israel bieten. Das heißt im Prinzip Sicherheitsgarantien und umfangreiche Waffenlieferungen, jedoch kein NATO-Beitritt. Erdogan – im Gegensatz dazu, und im Gegensatz zu seinen sonstigen Blockaden – hat bei Selenskyjs Besuch in der Türkei Anfang der Woche einen Beitritt der Ukraine befürwortet.

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Die Bedeutung der NATO-Ostflanke

Litauen ist eines von neun Ländern, welche die NATO gen Osten begrenzen und nimmt damit eine besondere Rolle ein. Besonders deutlich ist dies noch einmal geworden, als letzte Woche der Verteidigungsminister bei einem Besuch bekanntgegeben hat, Deutschland sei bereit für die dauerhafte Verlegung einer Brigade in das Partnerland. Etwas weniger im Mittelpunkt der Berichterstattung steht sicherlich der Einsatz von NATO-Kräften in den weiteren Ländern der NATO-Ostflanke.

Die Bedeutung der NATO-Ostflanke ist seit der Annexion der Krim durch Russland 2014 nicht mehr von der Hand zu weisen. 2016 wurde auf dem NATO-Gipfel in Warschau beschlossen, die baltischen Partner durch NATO-Truppen zu unterstützen. Seitdem rotieren in halbjährlichem Wechsel NATO-Soldaten im Rahmen dieser sogenannten Enhanced Forward Presence, in Litauen geschieht dies unter deutscher Führung.

Als Folge davon werden die baltischen Partner durch die sogenannte enhanced forward Presence und auch beim Air Policing, also dem Kontrollieren des Luftraumes durch Kampfflugzeuge, durch NATO-Partner unterstützt. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges stellt jedoch die NATO im Rahmen der enhanced Vigilance Activities auch Battlegroups in Bulgarien, Rumänien, Ungarn und der Slowakei. Damit ist nun die gesamte Ostflanke durch die NATO gestärkt. Im Rahmen dieser Unterstützung stellt Deutschland für Polen und die Slowakei Patriot-Systeme zur Luftverteidigung zur Verfügung. In die Slowakei wurde zusätzlich eine Panzerkompanie mit Leopard 2A6 verlegt. Zur Absicherung des NATO-Gipfels in Vilnius befinden sich die Flugabwehrraketengruppen derzeit in Litauen.

Durch seine Ankündigung, dauerhaft eine Brigade in Litauen zu stationieren, betritt Boris Pistorius jedoch Neuland. Zum ersten Mal wird damit sehr konkret von deutscher Seite gegen die NATO-Russland-Grundakte verstoßen, in der sich die NATO-Partner an sich dazu verpflichteten, keine Truppen dauerhaft an der Ostflanke zu stationieren.

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Die NATO-Russland-Grundakte

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1991 veränderte sich das Verhältnis der NATO zu den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, vor allem aber zu Russland, fundamental. Die Ausrichtung der NATO änderte sich von einem Gegenpol des Warschauer Paktes zu einem Verteidigungsbündnis, das gemeinsam mit Russland Frieden schaffen wollte. Dieses veränderte Verhältnis wurde 1997 in der NATO-Russland-Grundakte festgehalten. Das Prinzip, nicht gegen, sondern mit Russland Frieden zu schaffen, stammt daher. Die NATO und Russland haben sich in der Akte vor allem dazu verpflichtet, Frieden zu wahren und die Souveränität anderer Länder zu schützen. Für die NATO beinhaltete die Akte auch das Versprechen, gegenseitige Sicherheit nicht durch die dauerhafte Stationierung von Truppen zu erreichen.

Russland verstößt gegen die Vereinbarungen, die in der Grundakte getroffen wurden, seit dem Georgienkrieg 2008. Der jetzige Krieg ist nach der Annexion der Krim bloß ein weiterer Verstoß, der deutlich macht, wie wenig Russland daran gelegen ist, tatsächlich Frieden zu schaffen.

Die NATO auf der anderen Seite hat die Akte nie für obsolet erklärt, die dauerhafte Stationierung einer deutschen Brigade in Litauen kommt dem also gleich.

Von der NATO-Russland-Grundakte bleibt also lediglich eine leere Hülle, die höchstens als Verhandlungsmasse genutzt werden könnte, indem man Russland die gleichen Zusicherungen erneut macht. Es darf jedoch nicht der Fehler begangen werden, aus Angst, Russland auf die Füße zu treten, bei der eigenen Sicherheit Kompromisse zu machen.

Fazit

Der zweitägige Gipfel in Vilnius bringt verschiedenste Konflikte mit sich – innerhalb sowie außerhalb der NATO. Einen ersten Schritt auf dem Weg der Klärung hat der türkische Präsident Erdogan bereits durch das Aufgeben seiner Blockade unternommen. Es bleibt die Frage, was der Preis dafür sein wird. Zentral wird außerdem die Frage nach der Zukunft der Ukraine in dem Bündnis sein. Eine einheitliche Haltung lässt sich da noch nicht erkennen.